Buchrezension „Scham“ von Ines Bayard

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….weil Scham uns alle betrifft.“

Mein erster Eindruck

Neulich war ich wieder einmal in der Bücherhalle. Fast schon wollte ich meinen vielen Sachbüchern aus der Tür heraustreten, da erblickte ich auf dem Präsentationstisch in einer Halterung das Buch eines Romans mit dem klaren Titel „Scham“. Ein Wort, welches mich in letzter Zeit bewegt hat und zu dem ich unbewusst immer noch Antworten suchte. Diese starke Präsenz und Klarheit in dem Wort hat mich angezogen, so dass ich, generell ein großer Sachbuchverehrer, dennoch zu diesem Roman griff.

Beim Lesen des Anfangs war ich einen Moment irritiert, denn es war schon fast das Ende. Nun war meine Neugierde geweckt, welche Geschichte dahintersteckt. Ich las und der Anfang zog mich in seinen Bann. Der Schreibstil schnörkellos, eher direkt, klar. So wie das Buchcover ist auch der Text.

Worum geht`s

Um es kurz zu sagen, eine junge Frau wird vom Opfer zur Täterin. So kurz und knapp findet es sich auch auf dem Buchrücken. Die junge Frau lebt in einer Bilderbuchwelt, alles scheint in Ordnung, nichts trügt das Glück und die Zukunft wird siegessicher angestrebt bis zu dem Tag als sie von ihrem Chef vergewaltigt wird. Sehr eindrücklich wird daraufhin geschildert wie sich diese Tat auf ihr Leben und auf das Leben ihrer Familie und Umgebung auswirkt.

Die Hauptfigur ist die junge Frau mit dem Namen Marie, dessen Name so weich und unschuldig klingt, wie ein kleines Mädchen mit Zöpfen. Eine Hauptfigur, die sehr real erscheint, kein Fantasiegespinst, sondern eine Frau, die ihr wunderschönes Leben führt, die Band aha würde vielleicht von einem „cosy prison“ sprechen, aus welchem die junge Frau plötzlich massiv herausgeworfen wird.

Was hat mir gefallen?

Ganz ehrlich, dieses Buch hat mich tief beeindruckt. Ich wurde regelrecht hineingesogen. Was zu Beginn noch locker, leicht und beinahe blumig wirkte, verwandelte sich nach und nach in etwas Schwarz-Weißes, Nebeliges, Kaltes und Starres. Es fühlte sich an, als wäre ich unter Wasser oder hinter einer verschmutzten Scheibe, vielleicht sogar einer Milchglasscheibe. Mein Körpergefühl ließ nach, und auch mein Bewusstsein wurde schwächer – fast wie in einen schläfrigen Zustand versetzt. Während des Lesens zog ich mich innerlich zurück. Plötzlich war nichts mehr klar oder weit, alles wirkte verzerrt. Ich tauchte komplett in diese düstere, verzerrte Welt ein.

Besonders gefallen hat mir der klare, direkte Schreibstil. Er beschreibt die Dinge so realistisch, mit einem Unterton von brutaler Realität, ohne dabei künstlich dramatisch zu wirken. Es war die pure, nackte Realität – hässlich und brutal, einfach so, wie diese ist, ganz ohne Aufregung -emotionslos. Diese sachliche Art, die Handlungsszenen und die Beschreibungen zu schildern, verdeutlichen die Wirkung von einem traumatischen Schamgefühl so wie es die Protagonistin erlebte. Die Wortwahl, die fast vulgär klingt, mag ich , aus Scham gar nicht zitieren. So bin auch ich eine Gefangene dieser traumatischen Scham geworden. Und genau dieses Hineinweben in die Geschichte macht dieses Buch so kraftvoll.

Eine Seite, die ich faszinierend fand, war das ganz klare Verstehen dieses Schamgefühls. Man kann sicher tausende von Sachbüchern über Scham lesen, es auch verstehen, aber was es wirklich gefühlsmäßig und auf spätere Handlungen bezogen für einen bedeutet, das offenbart dir dieses Buch. Ich hatte vor längeren Zeit einen Experten zum Thema Gefühle gefragt, warum so selten das Gefühl Scham im Körper direkt gefühlt wird. Denn, es ist so, bei Wut fühlst du diese in deinen Bauch, der warm wird, aber Scham, Scham ist schwer bewusst zu fühlen. Letztendlich ist diese körperlich in unseren Genitalien anzufinden und sehr schwer ausfindig zu machen.

.Die Handlungen von Marie sind nicht ausschweifend, sondern fokussiert. Ihr Erlebensradius ist stark eingeschränkt. Alles wird durch den Trichter der Scham ausgerichtet und gemessen, so dass das Leben nur noch aus Scham besteht. Alle Erlebnisse sind wie gefärbt mit „Schamfarbe“. Hinzukommt die Projektion und die Schuld. Die Protagonistin erlebt hier natürlich ein sehr traumatisches Erlebnis, und dadurch erkennt man sehr deutlich, was die Scham mit einem anstellt. Wie dieses Gefühl auf unsere Psyche wirkt. Das unter Wasser sein, die verzerrte Wahrnehmung, und dieses partout mauern, vor Angst, etwas Schambehaftetes , freizugeben.

Das Ende des Buches ist eine Konsequenz aus dem Schamgefühl und alles, was damit einherging. Der Roman hat dadurch einen würdigen und glaubhaften Abschluss. Ein reiner Schnitt – emotionslos mit einem Hauch Kopfschütteln, mit dem der Leser zurückgelassen wird.

Fazit

Dieses Buch empfehle ich jedem, der die menschliche Psyche besser verstehen will. Es ist ein absolutes Muss für alle Therapeuten – und letztlich für uns alle. Denn Scham betrifft uns alle, auch wenn wir das oft nicht bewusst wahrnehmen. Sie ist ein tiefes Gefühl, das uns alle auf unterschiedliche Weise prägt. Häufig erkennen wir gar nicht, wie stark uns Scham beeinflusst, da sie oft im Verborgenen wirkt.

Scham entsteht schon in unserer frühesten Kindheit. Niemand bleibt davon verschont. Manche Menschen erleben sie stärker, andere weniger. Sobald ein Kind wiederholt nicht seinen Bedürfnissen nachgehen darf, beginnt es, Scham zu empfinden. Es entsteht das Gefühl: „Mit mir stimmt etwas nicht.“ Denn das, was das Kind möchte, wird von den Erwachsenen als „falsch“ bewertet – und diese Welt der Erwachsenen ist auch die Welt des Kindes. Das Kind beginnt sich dafür zu schämen, wer es ist und was es will. Um diesen Schmerz der Zurückweisung nicht immer wieder fühlen zu müssen, entwickelt es bestimmte Verhaltensweisen, die es schützen sollen. Und diese Verhaltensmuster begleiten uns oft ein Leben lang.

Jeder von uns trägt etwas von dieser verborgenen Scham in sich. Dieses Buch zeigt eindrucksvoll, wie dieser Kreislauf aus Scham und den daraus resultierenden Handlungen funktioniert.

Mich hat das Buch tief beeindruckt. Es hat mir geholfen, das Thema Scham besser zu verstehen und tiefer zu durchdringen. Es hat mich auch inspiriert, künftig öfter zu Romanen zu greifen. Denn ein Roman kann einen auf eine emotionale Reise mitnehmen, wie es ein Sachbuch selten schafft. Dieses Buch hat mir gezeigt, wie kraftvoll und erhellend diese Art des Verstehens sein kann.

Zum Buch:

„Scham“, Ines Bayard, Paul Zsolnay Verlag, 1. Auflage 2020

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